Anklage auf Folterbasis
Markus Bernhard
Bundesdeutsche Justiz stützt Vorwürfe gegen angebliche RZ-Mitglieder auf 30 Jahre alte Aussagen eines Schwerverletzten. Anwälte beantragen Aufhebung von Haftbefehlen
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main versucht zum wiederholten Mal, gegen zwei mutmaßliche Mitglieder der »Revolutionären Zellen«, kurz RZ, vorzugehen und hat Haftbefehl gegen die in Frankreich lebende Sonja S. (76) und Christian G. (67) erlassen. Beide sollen angeblich an Anschlägen der RZ vor rund 30 Jahren beteiligt gewesen sein. Die »Revolutionären Zellen« waren ein seit den 70er Jahren bis hinein in die 90er Jahre aktives Netzwerk militanter Gruppen, das sich als Teil der autonomen Bewegung verstand. Die RZ waren im weitesten Sinne antiimperialistisch und sozialrevolutionär orientiert und verübten Anschläge auf private Firmen und staatliche Einrichtungen. Sie engagierten sich gegen Rassismus, Ausgrenzung und das Großmachtstreben der BRD.
Bereits im Jahr 2000 waren die beiden vermeintlichen RZ-Mitglieder aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen worden, jedoch hatte ein französisches Gericht entschieden, daß die Sonja S. und Christian G. vorgeworfenen Taten nach französischem Recht bereits verjährt seien. Nichtsdestotrotz wirft die Frankfurter Staatsanwaltschaft besagten Personen weiterhin vor, 1977 an einem Sprengstoffanschlag der »Revolutionären Zellen« auf die Firma MAN in Nürnberg und an der Vorbereitung und Planung eines weiteren Anschlages auf die Firma »Klein, Schanzlin und Becker« in Frankenthal beteiligt gewesen zu sein (siehe Spalte). Auch eine Tatbeteiligung bei einem Brandanschlag auf das Heidelberger Schloß im Mai 1978 sieht die Staatsanwaltschaft als erwiesen an. Sonja S. wird des weiteren unterstellt, sie sei im Rahmen der Vorbereitung des Überfalls auf die OPEC-Minister am 21. Dezember 1975 in Wien bei der Anwerbung von Hans-Joachim Klein im Frankfurter Stadtwald anwesend gewesen und habe Waffen und Sprengstoff nach Wien transportiert. Der Verdacht gegen Sonja S. stützt sich indes einzig auf eine Aussage Kleins, obwohl selbst das Landgericht Frankfurt am Main in einem früheren Verfahren gegen diesen festgestellt hatte, seine Angaben in diesem Fall seien unglaubhaft.
Da der Pariser Cour d’ Appell bereits am 25. Februar diesen Jahres in erster Instanz entschieden hatte, daß die beiden vermeintlichen RZ-Mitglieder an die BRD ausgeliefert werden sollen, legten die Anwälte der Betroffenen, Detlef Hartmann und Wolfgang Heiermann, Beschwerde gegen die neuerlichen Haftbefehle ein. Schließlich gingen die ihren Mandanten vorgeworfenen Taten in die Jahre 1977 und 1978 zurück, so die Verteidiger. Zudem stütze sich die Anklage der Staatsanwaltschaft einzig auf die unter folterähnlichen Umständen zustandegekommenen Aussagen von Hermann F. Dieser hatte sich am 23. Juni 1978 bei einem Explosionsunfall schwerste Verletzungen zugefügt. Ihm mußten beide Beine oberhalb der Oberschenkel amputiert und beide Augen entfernt werden. Durch die Explosion entstand zudem eine Hirnschädigung, die zur Entwicklung einer posttraumatischen Epilepsie führte. Der lebensbedrohliche Gesundheitszustand F.’s hinderte die bundesdeutsche Polizei und Justiz 1978 jedoch nicht daran, den Schwerverletzten unter anderem im Universitätsklinikum Heidelberg zu vernehmen. Abgesehen von seinen Eltern und dem Klinikpersonal gingen einzig Ermittlungsbeamte, Staatsanwälte und ein Richter im Krankenzimmer ein und aus. Sie vernahmen F., obwohl dieser für alle Beteiligten erkennbar nicht vernehmungsfähig war. Auf sein Aussageverweigerungsrecht wurde F. nicht aufmerksam gemacht. Auch in den folgenden Wochen wurde F. von der Außenwelt abgeschirmt.
»Einen schwerverletzten traumatisierten Menschen zum Werkzeug von Ermittlungszielen herabzuwürdigen, verletzt elementare Menschenrechte, es verletzt in massiver Weise auch das Verbot unzulässiger Vernehmungsmethoden«, betont Rechtsanwalt Detlef Hartmann gegenüber junge Welt. Daß auf Angaben aus einer solchen Verhörsituation auch heute noch ein internationaler Haftbefehl gestützt werde, und dies ohne die Gesamtumstände durch einen Sachverständigen aktuell beurteilen zu lassen, ist für Hartmann vollkommen unverständlich. Er und sein Kanzleikollege Heiermann haben daher Beschwerde gegen die gegen ihre Mandanten erlassenen Haftbefehle eingelegt und beantragt, einen psychiatrischen Sachverständigen mit der Beurteilung der damaligen Vernehmungsfähigkeit von Hermann F. zu beauftragen. Über die Anträge will das Amtsgericht Frankfurt am Main im Lauf dieser Woche entscheiden.
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