Artikel in der Anti-Atom-Aktuell (Nr. 220/November 2011):
Am 14. September diesen Jahres wurden Sonja Suder (78) und Christian Gauger (70) an Deutschland ausgeliefert und am selben Tag in Frankfurt-Preungesheim und im Knastkrankenhaus Kassel inhaftiert.
Christian wurde in Untersuchungshaft gehalten, obwohl er nach einem wiederbelebten plötzlichen Herztod im Oktober 1997 unter schweren neuropsychologischen Störungen leidet. Erst am 20. Oktober wurde diese für ihn lebensgefährliche Situation beendet. Nach mehreren Interventionen seiner Anwälte wurde er von der Haft verschont. Sonja sitzt weiter in Untersuchungshaft.
Um was geht es? – Die Tatvorwürfe
Als Geburtsstunde der Widerstandsbewegung gegen das Atomprogramm der BRD gilt bis heute die Auseinandersetzung 1974/75, als Massenproteste in Wyhl den Bau des ersten geplanten AKW verhinderten. Seitdem hat die Bewegung mit all ihren Höhen und Tiefen für die Abschaffung aller AKW und der zivilen wie militärischen Nutzung dieser Risikotechnologie gekämpft. Als Teil der Bewegung setzten sich auch die Revolutionären Zellen (RZ) mit der Perspektive der Anti-AKW-Arbeit auseinander und suchten neue Formen und militante Praxen für den Widerstand.
Anschlag gegen MAN
Der Anschlag auf MAN am 22. August 1977 richtete sich gegen die Beihilfe zur Herstellung südafrikanischer Atombomben. Schon damals führte der Druck der Anti-AKW-Bewegung dazu, dass Atomgeschäfte in Deutschland nicht mehr so richtig vorankamen. Die beteiligten Firmen suchten sich deshalb neue Betätigungsfelder. So exportierte MAN Verdichter für eine Urananreicherungsanlage in Pelindabe in Südafrika. In einem Schreiben der RZ heißt es dazu: „Südafrika als Atomstaat – damit wird ein rassistisches Unterdrückungssystem weiter abgesichert“. Für die schwarze Bevölkerung hieß das: Unterdrückung und Ausbeutung. MAN ist bis heute im Rüstungsgeschäft aktiv.
Auch der zweite, den beiden vorgeworfene Anschlag richtete sich gegen die Atomindustrie. Die RZ schrieben im August 1977: „Nach unserer Aktion gegen den international geachteten Konzern MAN möchten wir mit der Aktion bei KSB in Frankenthal einen Kandidaten vorstellen, der ganz im Stillen, aber dort im großen Rahmen wirkt“. Die KSB AG ist zu der Zeit der weltweit größte Pumpenhersteller und spielt eine wesentliche Rolle für den Bau von AKWs in aller Welt. Bei den RZ heißt es weiter: „Vorstandsvorsitzender Kühlborn sagte das bei einer Vorlage des Geschäftsberichts ganz deutlich: Ihr Profit käme „ins Schleudern“, wenn die „Katastrophe“ einträte, daß keine Atomkraftwerke mehr gebaut würden.“ Heute schreibt das Unternehmen: „40 Jahre Erfahrung in der Entwicklung von Pumpen und Armaturen für Kernkraftwerke haben KSB zu einem der Weltmarktführer gemacht.“
Auch eine weitere Tat, die den RZ zugeordnet wird, soll in dem angestrebten Prozess verhandelt werden. Am 18. Mai 1978 wurde auf das Heidelberger Schloss ein Brandanschlag verübt. In einem Text mit dem Briefkopf der Stadt Heidelberg hieß es: „Als Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg erkläre ich, dass irgendwelche Behauptungen, ich hätte gestern Nacht im Königssaal des Heidelberger Schlosses Feuer gelegt, jeglicher Grundlage entbehren. Richtig ist vielmehr: Ich zerstörte und zerstöre Gebäude, die mir bei der Sanierung Heidelbergs im Wege stehen.“ Heute ist das Thema Gentrifizierung wieder Anlass für Protest und Widerstand.
Bei allen drei Vorwürfen stützt sich die Anklage auf vermeintliche Zeugenaussagen von Hermann Feiling. Vermeintlich deshalb, weil diese Aussagen erpresst wurden: In seinem Schoß explodiert im Sommer 1978 ein Sprengsatz – angeblich für eine RZ-Aktion gegen das Konsulat der seinerzeitigen argentinischen Folterdiktatur bestimmt. Er überlebt. Aber er erblindet und beide Beine werden amputiert. Seine einzigen „Bezugspersonen“ in verschiedenen Haftkrankenhäusern sind ab dann Polizisten, Staatsanwälte und Richter. Insgesamt ist er viereinhalb Monate in dieser Lage absoluter Hilflosigkeit, der Schmerzen, eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit, ferngehalten von Freunden und einem Anwalt seiner Wahl. Er selber sagte über seine Situation: „Ich fühle mich wie eine lächerliche Masse.“
Im August 1978 bemerkten Sonja und Christian eine Observation und sehen sie als Vorzeichen einer möglichen Verhaftung. Dieser entziehen sie sich. Erst später erfuhren sie von den gegen sie gerichteten Tatvorwürfen: Anschläge der Revolutionären Zellen gegen deutsche Konzerne.
Ebenso skandalös, aber auf einer anderen Ebene, ist die Grundlage für eine weitere Beschuldigung gegen Sonja, die zeitlich sehr viel später dazu kam. Ihr wird vorgeworfen, Beihilfe zum Überfall auf die OPEC-Konferenz im Januar 1975 geleistet zu haben. Es handelte sich zwar um keine Aktion der Revolutionären Zellen, aber der Kronzeuge – Hans Joachim Klein – hat sich selber später als RZ-Mitglied bezeichnet.
Klein bezichtigte 1999 aufgrund von Fotos mehrere Personen der Mittäterschaft. Einer war Rudolf Schindler, dem deswegen 2001 vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess gemacht wurde. Entgegen Kleins Aussagen wurde Schindler jedoch vom Vorwurf der Mittäterschaft freigesprochen. Das Gericht bezweifelte Kleins „Identifizierungssicherheit bei der Lichtbildvorlage“. Klein beschuldigte neben Schindler auch Sonja Suder, „obwohl er diesbezüglich zuvor nie von einer weiteren Frau gesprochen hat“, wie das Gericht schon 2001 befand. Außer dieser fragwürdigen Aussage Kleins hat die Staatsanwaltschaft in Sachen OPEC nichts gegen Sonja vorzubringen.
22 Jahre nach ihrem Verschwinden, im Jahr 2000, wurden Sonja und Christian in Paris festgenommen. In einem Auslieferungsverfahren stellte ein französisches Gericht jedoch fest, dass die ihnen vorgeworfenen Taten verjährt sind. Für die beiden bedeutete dieses Verfahren auch, dass sie fortan unter ihrer alten Identität ganz legal in Frankreich leben konnten. Doch der deutsche Staat ließ ihnen keine Ruhe. Die Behörden beantragten 2007 einen neuen, „europäischen“ Haftbefehl. Diesmal stimmte die französische Justiz zu.
Während der Staat internationale Atomgeschäfte bis heute durch Hermesbürgschaften absichert wie im Fall des brasilianischen Atomkraftwerks „Angra 3“ und während weiter deutsche Konzerne Atomtechnologie in verschiedene Staaten liefern und keiner der verantwortlichen Konzerne für seine Unterstützung der Apartheid in Südafrika zur Verantwortung gezogen wurde, soll den beiden nun auf Grundlage der dürftigen wie skandalösen „Beweise“ der Prozess gemacht werden.
Beide haben sich geweigert, einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einzugehen, beide wollen weiterhin jede Aussage verweigern. In dieser Haltung und beim kommenden Prozess sollten sie deshalb international Unterstützung erfahren – sorgen wir dafür, dass sie sich nicht ausgeliefert fühlen! @
Revolutionäre Zellen/Rote Zora
Die RZ waren eine der Stadtguerillagruppen, die sich Anfang der 1970er Jahre gründeten, um den bewaffneten Kampf in der BRD aufzunehmen. Erstmals traten sie 1973 mit einem Anschlag gegen den US-Konzern ITT in Westberlin in Erscheinung, um auf die Beteiligung des Konzerns an Pinochets Militärputsch in Chile hinzuweisen. 1974 fand im Rahmen der Kampagne für die Abschaffung des § 218 der erste Sprengstoffanschlag der „Frauen der RZ“ statt: Ziel war das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Ab 1977 agierten die Frauen eigenständig als Rote Zora. Ihre Popularität verdankten die RZ/ Rote Zora sicherlich nicht nur ihrem Anspruch, keine Avantgarde-Organisation aufbauen zu wollen, sondern auch der Bandbreite ihrer inhaltlichen Themen und Aktionsformen. Diese reichten vom Fahrscheinfälschen für Fahrpreiskampagnen bis zu Anschlägen gegen für die staatliche Flüchtlingspolitik verantwortliche Institutionen wie das Ausländerzentralregister in Köln. Hauptkennzeichen der Politik der RZ und der Roten Zora war die enge Verbundenheit ihrer Aktivist_innen mit sozialen Bewegungen wie antirassistischen Initiativen oder der Anti-AKW-Bewegung und deren Unterstützung durch militante Aktionen.