analyse & kritik 565 vom 21.10.2011

Späte Rache in Sachen RZ
(Der Artikel wurde vor der Entlassung Christians verfasst.)

Paris, St. Denis, 14.9.2011, 6 Uhr Morgens: Ein Trupp französischer Polizisten verhaftet die beiden seit elf Jahren dort lebenden Sonja Suder und Christian Gauger. Die Beiden dürfen sich noch anziehen und ihre Medikamente einpacken, dann werden sie getrennt in zwei Fahrzeugen nach Saarbrücken gebracht – Christian liegend in einem Krankenwagen. In Frankfurt werden sie einem Haftrichter vorgeführt, der die 78- bzw. den 70jährigen in Untersuchungshaft schickt.
Nach Beiden wurde ab 1978 wegen angeblicher Beteiligung an zwei RZ-Anschlägen im August 1977 auf MAN und Klein,Schanzlin,Becker (KSB) gefahndet. Firmen, die am Atombombenprogramm des Apartheidregimes in Südafrika beteiligt waren und eine wesentliche Rolle als Zulieferer für AKWs in aller Welt spielten.
Außerdem sollen sie an einem Brandanschlag auf das Heidelberger Schloss im Mai 1978 beteiligt gewesen sein, der sich gegen die brachiale Umstrukturierung der Stadt richtete. „Grundlage“ dieser Vorwürfe sind Äußerungen des angeblichen RZ-Mitglieds Hermann Feiling, die er im Sommer 1978 nach einem Explosionsunfall – bei dem er beide Beine und seine Augen verlor – unter dem Einfluss von schweren Schmerzmitteln und Psychopharmaka gemacht haben soll. Sonja Suder wurde außerdem vom Kronzeugen Hans Joachim Klein eine Beteiligung an den Vorbereitungen für den Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien im Dezember 1975 unterstellt. Schon 2001 stellte das Landgericht Frankfurt in einem anderen Verfahren fest, dass Kleins Behauptungen zu diesem Komplex unglaubwürdig sind. Davon unbeeindruckt wurde Sonja Suder weiterhin mit internationalem Haftbefehl gesucht.  (Siehe ak  538 17.4.2009)
Im Jahr 2000 waren Sonja Suder und Christian Gauger in Paris festgenommen worden. Nach zwei Monaten Knast lehnte das Appellationsgericht in Paris die Auslieferung nach Deutschland ab, da die Taten nach französischem Recht verjährt waren. Christian Gauger und Sonja Suder lebten seither legal in St. Denis. Ein deutscher BKA Beamter in Paris regte 2008 an, das neue Instrumentarium des „Europäischen Haftbefehls“ zu nutzen, was die Frankfurter Staatsanwaltschaft mit einem neuen Auslieferungsantrag dankbar aufgriff. Die Beiden wurden erneut inhaftiert, aber wieder unter Auflagen entlassen. Nachdem aber der französische Ministerpräsident Fillon 2010 persönlich die Auslieferung absegnete, hätten nur noch humanitäre oder medizinische Gründe hemmend wirken können: Christian hatte in der Illegalität 1997 einen Herzstillstand erlitten und konnte nur knapp wiederbelebt werden. Der Herzstillstand hat u. a. zu beträchtlichen Gedächtnis- und Erinnerungsstörungen geführt, die laut medizinischen Gutachten noch heute anhalten. Er ist auf eine ständige Betreuung und medizinische Versorgung angewiesen. Um dennoch eine Transport-, Haft- und Verhandlungsfähigkeit Christians behaupten zu können, schickte die Frankfurter Staatsanwaltschaft in diesem Frühjahr den Leiter des dortigen Instituts für Rechtsmedizin,  Prof. Dr. Bratzke, nach Paris, der danach – aus seiner begrenzten fachlichen Kompetenz heraus – ein den Wünschen entsprechendes Gutachten abgab.
Bratzke hat übrigens in einem Verfahren gegen BGS-Beamte –  zu ihren Gunsten – dem nigerianischen Flüchtling Kola Bankole „einen plötzlichen Tod aus natürlicher innerer Ursache“ bescheinigt. Kola Bankole war bei einem Abschiebeversuch am 15.5.1994 in einem Lufthansa-Flugzeug der Mund mit einem Knebel verschlossen und der Körper mit Klebeband bis hinunter zu den Füßen verklebt worden, während ein BGS-Beamter auf seinem Brustkorb kniete. Auch bemerkenswert, dass sich das Institut für Rechtsmedizin fast ausschließlich mit Dingen wie „Gerichtliche Leichenöffnung“,  „Privatsektionen“, „Untersuchung von Leichenteilen“ oder „Abstammungsuntersuchungen“ befasst und von staatlichen Aufträgen abhängig ist – aber nach eigenen Angaben „Verhandlungs- und Vernehmungsfähigkeit nur in besonderen Fällen“ bewertet. (www.rechtsmedizin-frankfurt.de).
Immerhin konstatierte selbst Bratzke: „Die Haftfähigkeit in einer normalen Vollzugsanstalt ist nicht gegeben, vielmehr bedarf es täglicher ärztlicher Betreuung, so  dass nur  die Unterbringung in einem Haftkrankenhaus gegebenenfalls in Frage käme.“ Tatsächlich kam Christian Gauger zunächst in das Haftkrankenhaus Kassel. Nach dem mündlichen Haftprüfungstermin Ende September wurde er in die normale JVA Frankfurt verlegt – angeordnet vom Haftrichter Clemens Becker, der erst am 26.9.2011 als „Der Knast-Entscheider“ in der ARD zu sehen war.
Denn trotz eindringlicher Hinweise auf die lebensbedrohliche Situation legte die Staatsanwaltschaft Frankfurt Beschwerde gegen die vom Amtsgericht angeordnete Haftverschonung ein, Christian Gauger bleibt erst mal in Haft. Um es ganz deutlich zu sagen: Es wird der Tod eines Gefangenen riskiert. Das Landgericht Frankfurt hat  bisher noch nicht entschieden.
Gegen Sonja Suder wurde der Haftbefehl vom Amtsgericht bestätigt.Sie und Christian Gauger haben sich immer geweigert, Aussagen und einen Deal mit der deutschen Justiz zu machen – das ist auch eine Erklärung für die Hartnäckigkeit, mit der sie verfolgt werden.
Sonja Suder und Christian Gauger kommen aus der militanten Linken der 1970er Jahre und die Themen Anti-AKW, Antirassismus/Internationalismus und Recht auf Stadt sind heute noch aktuell. Nicht nur, weil sie im Knast sind, auch weil sie für eine linke Geschichte und Widerständigkeit stehen, erfahren beide unsere Solidarität.
verdammtlangquer

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