Gericht nutzt unter Folter zustande gekommene Aussagen von 1978 zur Urteilsfindung
von Markus Bernhardt
Im Prozeß gegen Sonja Suder und Christian Gauger vor dem Frankfurter Landgericht fallen nach und nach auch die letzten rechtsstaatlichen Tabus. Die beiden betagten Angeklagten werden seitens der Staatsanwaltschaft der Mitgliedschaft in der linken Stadtguerillagruppe »Revolutionäre Zellen« (RZ) bezichtigt und sollen in den 1970er Jahren an verschiedenen Anschlägen beteiligt gewesen sein (jW berichtete).
Erst Anfang August hatte die Staatsanwaltschaft noch mehrere Niederlagen erlitten. So wurde etwa die Zeugin Sibylle S., die sich seit Anfang April dieses Jahres in Beugehaft befand, aus dem Gefängnis entlassen, und auch die erwartete Vernehmung des Zeugen Hermann Feiling fiel aus, da diesem von Ärzten aufgrund seines ausgesprochen schlechten Gesundheitszustandes bescheinigt wurde, nicht vernehmungsfähig zu sein.
Zwar hatte das Gericht auch den Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt, ein Ordnungsgeld oder gar Ordnungshaft gegen Feiling zu verhängen, jedoch begannen die zuständigen Richter am Verhandlungstag in der vorigen Woche Polizeiprotokolle von Vernehmungen Feilings zu verlesen, die unter folterähnlichen Umständen zustande gekommen waren.
So hatten die Beamten Hermann Feiling, der seit 1978 an den Folgen einer Explosion leidet, noch am Krankenbett zu einer Aussage genötigt, obwohl dieser sich durch den Unfall derart schwere Verletzungen zugezogen hatte, daß ihm in Folge dessen beide Augen entfernt und die Beine oberhalb der Oberschenkel amputiert werden mußten.
Bereits der Antrag der Staatsanwaltschaft, Feiling überhaupt vorzuladen, hatte zu Protesten von Bürgerrechtsorganisationen wie dem Komitee für Grundrechte und Demokratie geführt. Obwohl die Verteidiger von Suder und Gauger die 1978 durchgeführten »Anhörungen« des Schwerverletzten, die bereits unmittelbar nach seiner Operation begonnen hatten und während seiner monatelangen Internierung in Polizeikasernen fortgesetzt wurden, »als Verstoß gegen das Folterverbot« werten, stimmte das Gericht der Verlesung besagter Protokolle zu. Auch das Gutachten einer Traumatologin, die nach Auswertung der Akten zu dem Ergebnis gekommen war, daß Feiling aufgrund des Unfalls wahrscheinlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, in seiner Willens- und Urteilsfähigkeit eingeschränkt war und nicht hätte vernommen werden dürfen, war für das Gericht bedeutungslos. Prozeßbeobachter rechnen indes damit, daß auch an den nächsten Verhandlungstagen weitere Vernehmungsprotokolle aus dem Jahr 1978 verlesen werden.
»Das Frankfurter Landgericht will die 80jährige Sonja Suder, die weiterhin in Haft ist, verurteilen, nur weil sie schweigt. Die politische Strafjustiz bestraft nicht aufgrund konkreter Straftaten, sondern wegen der Gesinnung, in diesem Fall aufgrund der Unbeugsamkeit einer Frau, die sich gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten über dreißig Jahre lang der Festnahme entzog und sich nach ihrer Auslieferung aus Frankreich weigert, mit der deutschen Justiz zusammenzuarbeiten«, kommentierte eine Sprecherin des Solidaritätskomitees »Freiheit für Sonja Suder und Christian Gauger« das Vorgehen des Gerichtes am Dienstag gegenüber junge Welt.
Hätte sich Richterin Stock gegen die Verlesung der Vernehmungsprotokolle entschieden, hätte sie sich ihre eigene Niederlage organisiert. Denn sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Gericht mangelt es an jedwedem ernsthaften Beweis, auf dessen Grundlage Suder und Gauger verurteilt werden könnten.
Der Prozeß gegen die vermeintlichen RZ-Mitglieder soll nach derzeitigem Stand am heutigen Freitag fortgesetzt werden.