Geladen war heute der pensionierte Vorsitzende Richter des Frankfurter Landgerichts, Dr. Heinrich Gehrke, der 2001 Hans-Joachim Klein verurteilte und dabei die Kronzeugenregelung angewandt hat.
Gehrke, geboren 1939, ist bekannt aus dem Fernsehen, wo er wiederholt in Talkshows auftrat und wo er am Ende eines Reports über Hans-Joachim Klein mit diesem zusammentraf und von ihm eine Flasche Calvados erhielt. Gehrke traut Hans-Joachim Klein offensichtlich bis auf den heutigen Tag nicht über den Weg, denn, so gab Gehrke im Gerichtssaal zu, die Branntweinflasche aus der Normandie habe er bis heute nicht geöffnet, man wisse ja nicht, was genau darin sei.
Als Gehrke den Gerichtssaal mit einer FAZ unterm Arm betrat, gab es ein großen Hallo. Er kannte zahlreiche Prozessbeteiligte: Den Anwalt von Sonja, die Schriftführerin, den Justizwachtmeister und auch den Journalisten Kirn von der FAZ. Gehrke fasste es mit Unverständnis auf, dass der FAZ-Journalist hinter der Sicherheitsglasscheibe sitzen musste. „Kann man hier nicht aufmachen?“, fragte er den Wachtmeister und schüttelte nach dessen Verneinung seinen Kopf. Kirn fragte Gehrke, ob man nach seiner Vernehmung gemeinsam einen Kaffee trinken gehe.
Richter gegenüber Richter
Interessant war das Verhalten der beiden Richter. Die eine, die Vorsitzende Richterin des aktuellen Verfahrens namens Bärbel Stock, verhielt sich anfangs regelrecht devot gegenüber ihrem ehemaligen Kollegen. Der frühere Vorsitzende Richter Gehrke wiederum zeigte sich auf den Zeugenstuhl teils unsicher, sprach langsam, oft mit langen Denkpausen, und stotternd. Wie unterschiedlich sich ein und derselbe Mensch in unterschiedlichen Funktionen bzw. Rollen verhalten kann!
Gehrke wirkt von seinem Aussehen (längere, strubbelige Haare) und vor allem von seinen Aussagen her wie ein höriger Sozialdemokrat. Wenn er spricht, dann nach wie vor aus der Sicht eines Richters, der zu seinem Urteil steht.
Um was gings?
Bei Gehrkes Befragung durch Gericht, Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung ging es vor allem um den OPEC-Anschlag Ende 1975 in Wien, die vorausgegangene Anwerbung von Klein durch Brigitte Kuhlmann im Frankfurter Stadtwald, die Lieferung von Waffen nach Wien und darum, wie und ob die heute Angeklagte Sonja Suder im Prozess vor 12 Jahren Thema war.
Gehrke sprach aus seinen Erinnerungen, dass der damalige Angeklagte Hans-Joachim Klein Sonja Suder nicht näher gekannt habe, aber offenbar wusste, dass sie der Frankfurter RZ angehörte. Gehrke hatte den Eindruck gewonnen, dass „Klein mit Frau Suder keinen besonderen Kontakt hatte“. Klein habe über Sonja Suder „nichts detailliertes berichtet“. (Und weder Carlos noch Schnepel hätten Sonja Suder erwähnt.) „Nach seiner [Kleins] Darstellung soll es Sonja Suder gewesen sein“, die die Waffen aus Hessen nach Wien gebracht habe. Vielleicht, so Gehrke weiter, habe Klein nur darauf geschlossen, dass es Suder gewesen sei, aber das könne er heute nicht mehr sagen. Frau Suder habe in seinem Verfahren keine Rolle gespielt und „weil die Waffen [der RZ beim OPEC-Attentat] gar nicht genutzt wurden“, interessierte es auch nicht, wer die Waffen transportierte. Es müsse seinen Grund gehabt haben, dass im schriftlichen Urteil gegen Klein offen gelassen wurde, ob Frau Suder die Waffen transportiert habe. Sie hätten das als Gericht damals „nicht festgestellt“. Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft gesteht er später einen Irrtum in seiner vorherigen Aussage ein: Wenn im Urteil stehe, dass der Sprengstoff nicht zurück nach Hessen transportiert wurde, dann stimme das – und nicht seine wiederholten vorherigen Aussagen, dass sämtliche Waffen (der RZ) wieder zurückgingen. Die Sprengmittel verblieben in Wien.
Klein habe also wenig bis nichts zu Sonja Suder sagen können und auch nicht zu irgendeiner der RZ-Aktionen, an denen, so Gehrke, Klein nicht beteiligt war. Als Gehrke dann Klein nur als einmaligen OPEC-Attentäter charakterisierte, stellte die Rechtsanwältin von Sonja Suder hervor, dass er doch noch anders politisch aktiv war: Häuserkampf, Rote Hilfe, … Gehrke rief lachend dazwischen: „Häuserkämpfer ist auch unser ehemaliger Außenminister gewesen.“
Glaubwürdigkeit Kleins
Klein „wirkte auf uns […] glaubwürdig“. „Nicht so ganz überzeugend“ waren seine Aussagen, die ihn in ein günstigeres Licht gestellt haben, weil sie seine Rolle heruntergespielt haben. Gehrke habe „nicht den Eindruck“ gehabt, dass Klein Sonja Suder belastete, um die Kronzeugenregelung zu erhalten. Gehrke fand es erstaunlich, dass Klein mit seinem intellektuellen Hintergrund ein Buch schreiben konnte. Ein Detail hat er dabei nicht berücksichtigt: Das Buch ist nicht erschienen, weil es so wunderbar geschrieben und literarisch wertvoll war (im Gegenteil: das Buch ist miserabel geschrieben), sondern es erschien aus politischen Gründen. Widersprüche zwischen Kleins Ausführungen im Buch und Kleins späteren Aussagen ergaben sich für Gehrke nicht. Etwas später hat der Rechtsanwalt nochmal auf diese Widersprüche hingewiesen: Im Buch auf Seite 62 sei beschrieben, dass die Waffen aus der libyschen Botschaft vor den Waffen aus Hessen angekommen seien, später behauptete Klein das Gegenteil, auch Gehrkes Urteil gegen Klein sage das Gegenteil. Auf diesen und andere Vorhalte wurde Gehrke wortkarg.
Das „Problem der Kronzeugenregelung“
Die Kronzeugenregelung habe im Verfahren keine besondere Bedeutung gespielt, meinte Gehrke – was allein durch die Lektüre des Urteils widerlegt werden kann, und was ihm sogar die Staatsanwältin nicht glauben konnte. Und Gehrke sagte ausdrücklich, dass es keine diesbezüglichen Absprachen über Strafreduzierung außerhalb der Hauptverhandlung gab. – Und man fragt sich, warum er dies ungefragt so auffallend betonen muss. Das „Problem der Kronzeugenregelung damals“ war, ob sie überhaupt angewandt werden dürfe, weil die Regelung gesetzlich ausgelaufen war. Das maßvolle Urteil gegen Klein sei von dem Gedanken getragen, dass Klein zum Zeitpunkt seines Prozesses längst wieder auf freiem Fuß gewesen wäre, wenn er direkt nach der Tat verhaftet worden wäre. In dieser Logik müsste das Frankfurter Landgericht Sonja Suder längst entlassen haben.
Gehrke und die Staatsanwälte
Gehrke, so äußerte er, habe mit dem Staatsanwaltschaft gesprochen, der zu einem früheren Zeitpunkt die 1995 verstorbene Gabriele Kröcher-Tiedemann angeklagt hatte, aber mangels Beweisen nicht verurteilten konnte. Nach Kleins Aussagen in seinem Prozess, so Gehrke, wäre die Verurteilung möglich gewesen – zu spät.
Noch etwas lag dem Gehrke auf dem Herzen: Als gegen Ende des damaligen Verfahrens ein Freispruch für Kleins Mitangeklagten Schindler im Raum stand, erzählt Gehrke mit einem Lachen, habe die Staatsanwaltschaft versucht, das Verfahren gegen Schindler abzutrennen (und einzustellen), um einen Freispruch zu verhindern. Ein Freispruch, so befürchtete die Staatsanwaltschaft, könne zur Freilassung von Schindler führen, gegen den auch in Berlin ermittelt wurde. Tatsächlich folgte nach dem Freispruch das Berliner Kammergericht dieser Logik und Schindler wurde vorübergehend entlassen. Die Illustrierte „Focus“ habe dann einen gehässigen Bericht über Gehrke geschrieben. Der BGH habe dann aber wieder U-Haft angeordnet.
Ein Mitteilungsbedürfnis
Gehrke erwähnte wiederholt, dass es in seinem Verfahren ein „unheimliches Interesse von allen Seiten“ gab, Dinge in das Verfahren einzubringen, die nichts mit OPEC zu tun hatten. Zum Beispiel gab es auch Versuche „Karry mit reinzubringen“. Heinz-Herbert Karry wurde 1981 von der RZ angeschossen und starb. Die Tat ist nicht aufgeklärt, weswegen es ja bis heute ein Ermittlungsinteresse und eben auch den laufenden Prozess gegen Sonja Suder gibt. Gehrke wehrte sich aber gegen solche Versuche: „Ich habe immer abgewogen: Das hat mit der Tataufklärung nicht zu tun.“
Gehrke erinnerte sich auch an Unterlagen aus den Akten, die aus dem Jemen stammten. Es ist ihm bis heute unklar, wie diese Unterlagen zu den Akten kamen. Er hatte den Eindruck, sie stammen von einem französischen Geheimdienst, der einen V-Mann schützen wollte und deshalb die Quelle nicht offen machen konnte.
Ist das Urteil schon formuliert?
Der beisitzende Richter Richard Helwig stellt wenige, detailierte Nachfragen. Dabei entsteht der Eindruck, er habe schon das schriftliche Urteil ausformuliert vor Augen und brauche nur noch ergänzende Kleinigkeiten für die Begründung: Sonja Suder habe gewusst, was in Wien geplant ist, nämlich die Tötung zweiter Minister und der Einsatz von Sprengstoff, sie habe dafür Waffen geliefert, der gelieferte Sprengstoff wurde eingesetzt. Fertig ist die Verurteilung wegen Mordes.
Nach Entlassung des Zeugen Gehrke ging es noch um die kommissarische Vernehmung eines Polizeizeugen namens Schachtner oder Schaffner aus München, der zu seiner Vernehmung angeblich nicht nach Frankfurt kommen konnte, sondern stattdessen vor einer bayerischen Amtsrichterin gehört wurde. Der LKAler aus der Abteilung Sprengstoff hatte nach dem RZ-Anschlag auf MAN 1977 den Tatort auf dem Werksgelände untersucht. Der Antrag von Rechtsanwalt Bremer gegen die Vernehmung wurde zurückgewiesen. Rechtsanwältin Verleih war bei der Vernehmung anwesend und berichtete von einem quietschvergnügten Zeugen, der einfach nur zu faul war, nach Frankfurt zu reisen. Außerdem habe die Amtsrichterin noch nicht einmal die Unterlagen, die ihr Richterin Stock zukommen ließ, zur Kenntnis genommen: Sie waren noch ungelesen zusammengeheftet.
Alles in allem kein besonders unterhaltsamer Prozesstag. Am Dienstag sind zwei alte Polizisten geladen. Am 4.6. kommt noch einmal der Gutachter Dr. Haag.