Im Prozess gegen vermeintliche »Revolutionären Zellen« verwickelt sich der Kronzeuge in Widersprüche
Vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main leitet die Vorsitzende Richterin Bärbel Stock die Verhandlung gegen zwei Militante der 1970er Jahre. In bislang 25 Prozesstagen ist ihr Verurteilungswille deutlich geworden.
»Happy birthday to you«, hallen Gesänge aus dem Publikum in den Gerichtssaal, als die Angeklagte Sonja Suder eintritt. Sie wurde aus der Untersuchungshaftanstalt Frankfurt-Preungesheim hierher gebracht und nun lächelt sie. Prozessbesucher aller Altersklassen haben das Geburtstagsständchen erstaunlich gut intoniert. Sogar ein sonst bieder dreinblickender Justizbeamter muss schmunzeln. Sonja Suder ist 80 Jahre alt geworden. Der Mitangeklagte Christian Gauger, 71, ist ihr Lebensgefährte. Beide engagierten sich in der ersten Hälfte der 1970er in Frankfurt am Main. Sie in der Hausbesetzerbewegung, er in der undogmatischen Roten Hilfe für die Freiheit von politischen Gefangenen.
Derzeit stehen die beiden vor dem Frankfurter Landgericht. Ihnen wird vorgeworfen, als Militante der Revolutionären Zellen (RZ) im August 1977 und Mai 1978 drei Brand- und Sprengstoffanschläge verübt zu haben. Zwei dieser Aktionen zielten auf Firmen, die Pumpen für Atomkraftwerke lieferten bzw. Bauteile für eine Urananreicherungsanlage des Apartheidstaats Südafrika. Die dritte galt dem Heidelberger Schloss, um auf den Widerspruch zwischen der schicken Touristenattraktion und dem gleichzeitigen profitorientierten Abriss ganzer Stadtviertel hinzuweisen. Der Sachschaden blieb gering. Sonja Suder soll außerdem 1975 logistische Unterstützung zum Überfall auf die Konferenz der erdölexportierenden Länder (OPEC) geleistet haben. Damals wurden elf Erdölminister als Geiseln genommen, um arabische Staaten zu Stellungnahmen bzw. Unterstützung von palästinensischen Befreiungsbewegungen zu veranlassen. Drei Sicherheitsbeamte kamen dabei ums Leben. Sonja Suder sitzt deswegen seit September 2011 in Untersuchungshaft. Christian Gauger, der infolge eines Herzstillstands 1997 sein Gedächtnis verlor, ist von Haft verschont.
Eine Richterin und ihr Verhältnis zu Folter
Wenn Bärbel Stock den Gerichtssaal betritt und zum Richterpult geht, blickt sie zu Boden. Erst wenn sie sitzt, schaut sie auf und eröffnet mit leiser Stimme die Verhandlung. Die Vorsitzende Richterin, geboren 1956, begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ihr Jurastudium. Seit fast 30 Jahren ist sie Richterin. Ein freier Posten beim Bundesgerichtshof, auf den sie hoffte, wurde Justizkreisen zufolge nicht mit ihr, sondern mit einem ihrer Beisitzer besetzt. Seit dem 21. September 2012 führt sie – zwei weitere Berufsrichter, zwei Laienrichter und insgesamt drei Ersatzrichter sitzen meist schweigend neben ihr – den Prozess im Hochsicherheitssaal des Frankfurter Landgerichts. Eine dicke Glasscheibe trennt den Gerichtssaal vom beengten Zuschauerraum. Die Prozessbesucher werden vor dem Betreten penibel durchsucht. Am Einlass beschweren sie sich über Stocks Anordnung, wonach ihre Personalien registriert und bewaffnete Polizeibeamte im Zuschauerraum zugelassen werden. Eine Vertreterin einer Gruppe französischer Prozessbeobachter spricht von Einschüchterung.
Bärbel Stock war die Richterin, die 2004 das Urteil über den früheren Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner fällte, der die Zufügung von Schmerzen gegen einen Kindesentführer angeordnet hatte. Mit einer Geldstrafe auf Bewährung blieb Stock weit unter dem Strafrahmen. Daschner musste keinen Cent zahlen. Menschenrechtsorganisationen sahen in diesem Urteil ein fatales Signal: Wer foltert, ist zwar schuldig, wird aber nicht bestraft.
Die Aufweichung des Folterverbots spielt auch im laufenden Verfahren eine Rolle. Konkret geht es um den Zeugen Hermann Feiling, ebenfalls ein Militanter der 1970er Jahre, der während der Fußball-WM 1978 in Argentinien ein Fanal gegen die dortige blutige Militärdiktatur setzen wollte. Die für das argentinische Konsulat in München bestimmte Bombe explodierte auf seinem Schoß. Seine Beine mussten amputiert, die Augäpfel entfernt werden. Noch auf der Intensivstation begannen die Verhöre des Schwerverletzten, der unter epileptischen Anfällen litt und starke Beruhigungsmittel bekam. Fast täglich, vier Monate lang, fragten ihn die Ermittler aus, ohne einen Rechtsanwalt und Besuche von Freunden und Vertrauten zuzulassen. 1300 Seiten umfassten schließlich die Verhörprotokolle. Alle Äußerungen hat Hermann Feiling später widerrufen.
Trotz dieser vom sechsköpfigen Verteidigerteam teils nüchtern, teils couragiert vorgetragenen Einwände verliest die Vorsitzende Richterin Stock die Protokolle und akzeptiert damit die folterähnlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Sie tut dies, weil sie auf diese Aussagen ihr Urteil stützen will.
Noch ein weiterer Punkt läuft einem fairen Verfahren zuwider: Das einzig Belastende im Fall OPEC ist die Aussage des Kronzeugen Hans-Joachim Klein, der zu dem internationalen Kommando gehörte, das 1975 im Wiener OPEC-Gebäude die Geiseln nahm. Klein wurde 2001 von einer anderen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts wegen dreifachen Mordes zu neun Jahren verurteilt und 2003 entlassen. Strafmildernd wirkte sich unter anderem seine Aussage gegen Sonja Suder aus. Unmittelbar nach seinen ersten polizeilichen Vernehmungen in Deutschland 1999 wurde ein internationaler Haftbefehl gegen sie erlassen.
Allerdings musste schon 2001 eine zweite Person, die von Klein ebenfalls schwer beschuldigt wurde, freigesprochen werden. Das Gericht stellte in der Urteilsbegründung fest, dass Klein die Unwahrheit sagt: Er sei an die Grenzen seiner Erinnerungsfähigkeit gestoßen, habe Einlassungen geschönt und Abläufe falsch geschildert. Das Gericht zog sogar in Erwägung, dass er bei der Schilderung eines tödlichen Schusswechsels im OPEC-Gebäude bewusst gelogen hat, um von seiner eigenen Beteiligung abzulenken.
Neue Vorwürfe eines gerichtsbekannten Lügners
Gleich dreimal fiel dem Frankfurter Gericht 2001 auf, dass Klein – nachdem er in seinen zahlreichen Äußerungen zuvor niemals eine entsprechende Frau erwähnte – in seinen Verhören im Juli und September 1999 »plötzlich« eine Frau ins Spiel brachte, die er dann als ein weiteres, sechstes RZ-Mitglied identifizierte, obwohl er vorher immer angegeben hatte, nur fünf Mitglieder zu kennen. Kleins Aussage, so das Gericht, sei »schwer nachvollziehbar und widersprüchlich«.
Seit Mitte Januar wird Hans-Joachim Klein als Zeuge gehört. Er bezichtigte erstmals Sonja Suder, kurz vor dem OPEC-Überfall persönlich Waffen in eine konspirative Wiener Wohnung gebracht zu haben, was mit seinen älteren Aussagen nicht übereinstimmt. Von der Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, verwickelte er sich in weitere Widersprüche. Deswegen stellte die Verteidigung einen Antrag auf Aufhebung von Sonja Suders Haftbefehl, über den Richterin Stock demnächst entscheiden muss. Mit dem Beschluss fällt eine Vorentscheidung über das zu erwartende Strafmaß: Nur wenn das Gericht Kleins aktuelle Aussagen als glaubwürdig einstuft, ist ein Urteil zu einer hohen, in ihrem Fall wohl lebenslänglichen Haftstrafe möglich.
Trotz alledem wirkt Sonja Suder im Gerichtssaal lebensfroh und standhaft. In einem Gespräch mit der Schweizer Wochenzeitung WOZ äußerte sie: »Wenn du vorher ausgemacht hast: ›Wenn einmal was passiert, dann kein Wort, keine Aussage‹, dann hast du ein sehr sicheres Gefühl.«
Insgesamt 33 Jahre lebte sie mit ihrem Freund Christian Gauger im Exil. Im Sommer 1978 hatten sie bemerkt, dass sie observiert werden. Sie tauchten in Frankreich unter. Nach Kleins Aussagen 1999 und der Verhaftung der beiden Flüchtigen in Paris im Jahr 2000 verlangte die Bundesrepublik die Auslieferung. Frankreich wies das deutsche Begehren ab. Die zur Last gelegten Taten sind nach französischem Recht verjährt. Das Paar konnte gegen Hinterlegen einer geringen Kaution noch zehn Jahre in Freiheit in Frankreich leben. Erst mit dem neuen, 2006 in Kraft getretenen europäischen Haftbefehl gelang es der deutschen Justiz, einen Erfolg versprechenden Auslieferungsantrag zu stellen.
Keine Kooperation mit Ermittlungsbehörden
Suder und Gauger haben Anfang der 2000er Jahre ein informelles Angebot der Frankfurter Staatsanwaltschaft, als Gegenleistung für ein Geständnis nur eine Bewährungsstrafe zu erhalten, abgelehnt. Sie nehmen ihr Recht auf Aussageverweigerung wahr. Vor allem deshalb gibt es viel Sympathie bei jungen Linken, die die 1970er Jahre und die Revolutionären Zellen nur aus Büchern oder Erzählungen kennen. Und deshalb gibt es auch regelmäßig Solidaritätsinitiativen. Ein Solidaritätskomitee und die örtliche Rote Hilfe beobachten den Prozess und informieren die Öffentlichkeit. Nach ihrer Einschätzung hat die Anklagevertretung schlechte Karten: Es lägen bislang kaum verwertbare Beweise vor, die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen sei »völlig demontiert«. Wer jedoch als ehemaliger Militanter mit Ermittlungsbehörden nicht kooperiert und niemanden verrät, der bekommt – wie dieser Fall zeigt – die Härte des Rechtsstaats zu spüren.
Über 30 Jahre dauerten die Ermittlungen, über zehn Jahre die Auslieferungsverfahren. Seit über einem Jahr sitzt Sonja Suder in Untersuchungshaft. Die Vorsitzende Richterin hat alle bisherigen Anträge auf Haftentlassung abgelehnt. All dem muss sie letztlich gerecht werden. Die Richterin muss verurteilen. Das sagt ihr die Staatsräson.